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Brandenburgs Entscheidung, LER als Pflichtfach für alle Schülerinnen und Schüler einzuführen und damit den konfessionellen Religionsunterricht nur mehr auf freiwilliger Basis anzubieten, wirft Fragen auf nach dem verfassungsrechtlichen Stellenwert und - genuin damit verknüpft - nach der didaktischen Konzeption eines legitimierbaren Ethikunterrichts: Wie weit geht das Recht oder die Pflicht des Staates, ethisch zu erziehen?

Seit Einrichtung des Ethikunterrichts in verschiedenen alten Bundesländern geht die Mär, er verdanke seine "Existenz weder pädagogischer Ambition noch philosophischem Eros, sondern bürokratischer Zweckmäßigkeit"(1). Sicher mag einigen auch die Lösung von Aufsichtsproblemen am Herzen gelegen haben, manch einer mag damit auch die Hoffnung verbunden haben, durch Streichung der Freistunden abgemeldete Schäfchen wieder im konfessionellen Religionsunterricht begrüßen zu können. Doch die Frage stellte sich auch damals schon wesentlich ernsthafter und grundsätzlicher. Solange der Staat sicher sein konnte, dass nahezu alle Kinder und Jugendlichen im Religionsunterricht Kenntnisse und Fähigkeiten im Bereich des weltanschaulich-ethischen Urteilens erwarben, bestand keine gesellschaftliche Notwendigkeit, einen Ethik-Unterricht einzuführen. Mit der Zunahme von Abmeldungen vom Katholischen oder Evangelischen Religionsunterricht oder von zur Teilnahme nicht verpflichteten Schülerinnen und Schülern wurde die Frage nach seiner pädagogischen und gesellschaftlichen Funktion dringlich: Welche Bedeutung hatte (und hat noch) der Religionsunterricht für die "Sozialisation" der jungen Menschen? Gehen ohne ihn gesellschaftlich wichtige Wissensgehalte verloren? Wie kann gewährleistet werden, dass alle Schüler in der staatlichen Schule dasjenige lernen, worauf Staat und Gesellschaft nicht verzichten können, ohne dass der Staat gleichzeitig seine weltanschauliche Neutralität preisgibt? Bevor einige Thesen zu den staatstheoretischen und verfassungspolitischen Problemen und den didaktischen Folgerungen für den EU vorgestellt werden, sollen ein paar Zahlen ein Licht auf die gesellschaftlichen Veränderungen werfen, die hierbei betrachtet werden müssen.

Demographie

1950 gab es im früheren Bundesgebiet noch einen Anteil von Katholiken an der Bevölkerung in Höhe von rund 43%. Dieser Anteil liegt nach Rückgängen in den Jahren nach 1974 wieder bei 43% im Jahre 1989. Die Evangelische Kirche Deutschlands lag 1950 bei rund 51%, Ende 1989 betrug ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nur noch rund 40% (2). Der Islam ist in Deutschland nach dem Christentum die größte Religion, 1987 hatte er - neuere Zahlen sind auch im Datenreport 1994 (3) des Statistischen Bundesamtes nicht enthalten etwa 1,7 Millionen Anhänger, das waren 2,7% der Bevölkerung, heute dürfte die absolute Zahl der Muslime bei etwa 2,5 Millionen liegen, einige Schätzungen sehen sogar über 3,5 Millionen.
Berücksichtigt man zugleich die Alterspyramide, so wird klar, dass der Anteil der schulpflichtigen Muslime deutlich über diesen 2,7% liegt: Man schätzt etwa 5,5% aller deutschen Schulpflichtigen 85% davon Türkinnen und Türken. 11,5% unserer Schülerinnen und Schüler besitzen übrigens in Deutschland eine andere als die deutsche Staatsangehörigkeit. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung sind 16,4% unter 15 Jahre, 15% über 65 Jahre alt.
In den neuen Bundesländern sehen die Zahlen wesentlich anders aus: Hier gehörten 1989 nur etwa 36% dem Christentum an - 30% dem evangelischen, 6% dem katholischen. Zwischen den einzelnen neuen Bundesländern gibt es dabei noch Differenzen. Bei 1,3% Nichtdeutschen war hier auch 1992 noch ein nur sehr geringer Anteil nicht-christlicher Religionen festzustellen.
Doch auch die Zahlen für die alten Bundesländer müssen regional noch differenzierter betrachtet werden. Der Anteil der Muslime liegt ähnlich wie der Anteil Konfessionsloser und Angehöriger anderer Religionen in den Ballungsräumen wesentlich über den o. a. Zahlen; dies kann schon aus der hier sehr hohen Ausländerdichte geschlossen werden. Die Ausländerdichte (Anteil an der Bevölkerung) ist im Hinblick auf die Folgen für die Schule noch wichtiger als die absoluten Zahlen [...]

Die an dieser Stelle notwendig nur sehr exemplarisch zusammengestellten Daten ergeben für die Ausgangssituation des Ethikunterrichts in den einzelnen Bundesländern ein sehr unterschiedliches Bild. Im Hinblick auf den Anteil an Schülerinnen und Schülern aus anderen Kulturen und Religionen liegen die großen Städte Norddeutschlands wesentlich unter der Dichte z.B. des Rhein-Main-Gebietes, auch der Industrieregionen im Ruhrgebiet und um Stuttgart dies hat für den Bedarf, der für die Vermittlung ethischer Bildung an Nichtteilnehmer eines Religionsunterricht gesehen werden muss, erhebliche Bedeutung, aber auch für die didaktische Konzeption des Ethikunterrichts. Daneben besteht großer Bedarf für einen Ethik-Unterricht auch in den neuen Bundesländern - hier jedoch nicht wegen einer großen multikulturellen Vielfalt. Hier leben - so sei die wiederum verkürzende These gestattet - die Kinder und Jugendlichen in einer weitgehend areligiösen Kultur, wohl aber in einer aufgeklärt- deutsch geprägten Denk- und Werthaltung. Die Situation etwa in Brandenburg ist mithin nicht vergleichbar mit der in anderen Regionen (5).

In den neuen Bundesländer ergibt sich die Notwendigkeit für einen Ethikunterricht aus völlig anderen Gründen als in den alten Bundesländern, hier v. a. in den großen Ballungsräumen. Trotz dieser unterschiedlichen Rahmenbedingungen muss jedoch der Ethikunterricht in verfassungsrechtlicher Hinsicht weitgehend den gleichen staatlichen Grundsätzen folgen!

Werteerziehung und religiöse Erziehung an staatlichen Schulen: Aufgaben und Grenzen

Das Grundgesetz garantiert in §7.3 den Religionsgemeinschaften - ohne sie näher zu definieren - das Recht, ein Fach in Übereinstimmung mit ihren Grundsätzen zu gestalten. Gleichzeitig unterstellt es jedoch den Religionsunterricht wie das gesamte Schulwesen der Aufsicht des Staates. Dieser Staat muss, so Art. 4.1, die Unverletzlichkeit des Glaubens, des Gewissens und der Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses garantieren, d.h. jeder Glaube, jede Religion, jede weltanschauliche Überzeugung ist gleichermaßen zu respektieren. Dies gilt gerade auch bei Religionsgemeinschaften, die der Mehrheit der Bundesbürger "suspekt" erscheinen.

Der Religionsunterricht, wie er hier gemeint ist, darf also so gestaltet werden, dass er im Sinne eines speziellen religiösen Bekenntnisses die Schülerinnen und Schüler erzieht. Der Staat selber und damit die staatliche Schule darf dies nicht. Er hat im Gegenteil weltanschaulich neutral zu bleiben. Diese Situation ist schwierig und hat auch im Zusammenhang mit dem christlichen Religionsunterricht immer wieder zu heftigen Diskussionen geführt: Der Staat soll neutral sein und soll trotzdem einen Bekenntnisunterricht zulassen, über den er dann auch noch ein Aufsichtsrecht besitzt? Was darf der Staat - was darf er nicht? Was darf ein weltanschaulich gebundener Religionsunterricht - was darf er nicht? Warum will und wann kann der Staat einen Religionsunterricht zulassen? Wann muss er i.S. seiner Aufsichtspflicht eingreifen?

Die Antworten auf diese Fragen sollen an dieser Stelle anhand des Ethikunterrichts diskutiert werden, der denselben Prinzipien folgen muss, die der Staat gegenüber dem von Religionsgemeinschaften getragenen Religionsunterricht zu beachten hat.

Der EU sieht sich immer wieder dem Postulat gegenüber, den Jugendlichen den "richtigen" Weg zu weisen.
So sehr man die eine oder andere dieser Haltungen für sinnvoll und richtig oder auch für grundfalsch hält - als Ethiklehrer oder Ethiklehrerin, d.h. als Repräsentanten und Erziehungsbeauftragte des Staates, darf man die eigene persönliche Weltanschauung den Jugendlichen nicht anerziehen wollen. Dieses zu versuchen steht dem Ethiklehrer nicht zu, weil es dem weltanschaulich neutralen Staat nicht zusteht. Ebenso wenig kann dieses Unterfangen den Parteien zugestanden werden.

Die philosophisch-politische Diskussion über Entstehung, Begründung, Funktion des Staates sieht gerade in dem Fehlen einer gemeinsamen Wertehierarchie in modernen Staaten eines der wesentlichen Elemente dieses Staates. Was die staatstheoretische Reflexion als Grundlage feststellt, lässt sich je nach Theorie beschreiben als Konsens, der aufgekündigt werden kann, als Vertrag, der wieder gekündigt oder zumindest verändert werden kann, als Institution, die die prinzipiell veränderliche Kodierung sozialer Übereinkünfte ist, usw. Für jede dieser Theorien gilt also:
Politik und Staat sind sich bewusst, dass sie nicht mehr die Gewissheit einer gemeinsamen Wertehierarchie zur Basis haben (Dubiel, Dahrendorf, Habermas, Luhmann u.v.a.) (6). Die theokratischen Modelle, in denen im Abendland der christliche Monotheismus die Legitimationsquelle für Herrschaft darstellte, fielen der aufklärerischen Relativierung und der demokratischen Herrschaftskritik zum Opfer. Alle gegenwärtigen Theorien, eigentlich taucht dieser Gedanke seit Hobbes immer wieder auf, sind in der Beschreibung dieser Ungewissheit einig: Es gibt kein gemeinsames Weltbild mehr, es gibt vor allem kein gemeinsames Ethos i.S. einer in der Gesellschaft und im Staat allen gemeinsamen Wertehierarchie. Es zeichnet im Gegenteil einen demokratischen Staat gerade aus, dass er die Geltung unterschiedlicher Wertehierarchien der in ihm lebenden Weltanschauungen garantiert.

Das Nebeneinander der unterschiedlichsten ökonomischen Voraussetzungen, Sozialisationsbedingungen, Individual- und Gruppenbiographien usw. bringt es mit sich, dass in pluralistischen Gesellschaften vielfältige divergierende Moralgemeinschaften nebeneinander bestehen. Der amerikanische Ethiker Engelhardt (7) spricht hier von "moral communities". Nur innerhalb kleinerer Moralgemeinschaften gibt es u. U. einen - zumindest teilweise - wirksamen Konsens, sieht man von Prozessen des Wertewandels auch innerhalb solcher Gruppen ab.

Weder aus einem "gelebten gesamtgesellschaftlichen Ethos" noch aus einem "letztbegründeten philosophischen Ansatz" lässt sich ein weltanschaulicher Erziehungsauftrag des Staates begründen.

Jedoch: Die verschiedenen Moralgemeinschaften unserer Gesellschaft müssen miteinander umgehen und zusammenarbeiten. Es gibt - sonst würde diese komplexe pluralistische Gesellschaft gar nicht funktionieren, und das tut sie offensichtlich - eine Reihe von minimalen Einzelvorstellungen, die alle diese Moralgemeinschaften akzeptieren, solange - dies ist die Bedingung - sie sich in ihrer Eigenständigkeit akzeptiert oder unangegriffen empfinden. Hierzu gehören die Grundsätze, dass in der Auseinandersetzung auf Gewalt verzichtet werden muss, dass Freiraum für die jeweils abweichende Meinung gegeben werden muss, dass jede Haltung das Recht hat, in ihrer Autonomie respektiert zu werden, dass an anderen nichts ohne deren Zustimmung getan werden darf, dass jeder Mensch in diesem Sinne gleiche Rechte besitzt.

Die so heterogene Gesamtgesellschaft bildet also - Hobbes weitergedacht - minimale Spielregeln (8) aus, die moralisch oder gesetzlich normierend wirken, um die vielen Moralgemeinschaften nebeneinander bestehen zu lassen, um Frieden zu halten und nicht in den Krieg aller gegen alle zurückzufallen - die Erfahrungen in Geschichte und Gegenwart zeigen, z. T. nicht weit von hier, wie zerbrechlich diese Chance ist.

Der demokratische Staat hat hier eine seiner wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste Aufgabe: eine Aufgabe, die gleichzeitig bedeutet, dass er die Finger aus Fragen der Moral lässt.

Der Staat darf zunächst nur zu Toleranz als "formalem" oder "prozeduralem" Wert erziehen, zur Nichtanwendung von Gewalt. Den Lebensschutz aller Mitglieder muss er mit allen Mitteln garantieren, mit Strafandrohung, aber auch mit den Mitteln der Erziehung.

Die "formalen", weil weltanschaulich nicht gefüllten Werte, die den friedenserzeugenden moralischen Rahmen der zusammenlebenden weltanschaulich-moralischen Einzelgemeinschaften ausmachen, kann und soll der demokratische Staat in der Schule, damit auch im EU (im Religionsunterricht wäre dies der wichtigste Punkt, der der staatlichen Aufsicht unterworfen ist) anerziehen wollen - ob und wie das gelingen kann, ist in einem weiteren Schritt zu betrachten.

Das Ethos des Grundgesetzes

Damit gewinnt die dritte Lösung, die Legitimation eines Erziehungsauftrags aus einem "Ethos des Grundgesetzes", an inhaltlichem Profil, fordert doch das Grundgesetz genau die beschriebene Haltung des Staates gegenüber seinen Bürgern. Dieser Ansatz reicht vollkommen aus, um einen staatlichen Erziehungsauftrag trotz aller weltanschaulicher Neutralität, nein: gerade wegen einer ernstgenommenen staatlichen Neutralität sehr tragfähig zu begründen. Die inhaltliche Bestimmung dessen, was dieses "Ethos des Grundgesetzes" ausmacht, muss dabei jedoch enge Grenzen respektieren.

Der Verfassungsrichter E.-W. Böckenförde beschrieb dieses Ethos der Demokratie so: (9)
"Der Inhalt des demokratischen Ethos erwächst (...) aus der Anerkennung der Strukturprinzipien, auf denen die Demokratie beruht, vor allem der demokratischen Freiheit und politischen Gleichheit. Das Ethos der Demokratie ist demgemäß ein Ethos der Partnerschaft. Seine einzelnen Elemente lassen sich wie folgt umschreiben:


Konsequenzen für ethische Urteilsbildung

Die staatliche Schule hat einen Erziehungsauftrag, aber einen in weltanschaulicher Hinsicht begrenzten.

Der Staat hat die weltanschauliche Erziehung bis zur Einführung des FU vollständig den Einzelgruppen, den einzelnen moral communities überlassen, wenn man dies i.S. der Schulfächer sieht. Der Staat hat die "Finger aus der Moral gelassen" und die weltanschauliche Erziehung zunächst den größeren Kirchen überlassen. Der Religionsunterricht erreichte nahezu alle Schülerinnen und Schüler. Daneben hat der Staat auch anderen Religionen, in Hessen z.B. den jüdischen Gemeinden, der griechisch-orthodoxen und der syrisch-orthodoxen Kirche dieses Recht zugesprochen.

In diesem Zusammenhang ist sehr deutlich festzuhalten, dass alle Versuche, einen ("konfessorischen") Religionsunterricht im Klassenverband ohne (rechtliche oder faktische) Abmeldemöglichkeit zu etablieren, mögen sie pädagogisch u. U. auch noch so gut begründet sein, nicht nur illegal und grundgesetzwidrig sind, sondern letztlich auch das friedenssichernde Prinzip des weltanschaulich neutralen Staates aushöhlen.

Das Fach, das der Staat selber und allein zu verantworten hat, der Ethik-Unterricht, unterscheidet sich von jedem Religionsunterricht gerade in diesem Punkt des Bekenntnisses. Der EU darf die weltanschauliche Neutralität des Staates eben nicht verlassen.

In diesem Sinne hat z. B. das Freiburger Oberverwaltungsgericht entschieden: "Religionsunterricht sei oder könne jedenfalls sein Bekenntnisunterricht und religiöse Unterweisung". Hingegen führe eine zu den schulischen Aufgaben gehörende "sachliche Auseinandersetzung mit allen weltanschaulich-religiösen Auffassungen" nicht in einen "verfassungsrechtlich unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt" (10).

Der Staat muss allerdings dafür sorgen bzw. darüber "Aufsicht" führen, dass durch einen in Verantwortung einer Religionsgemeinschaft durchgeführten Religionsunterricht die Aufgaben des Staates, Frieden zu garantieren und zum Frieden zu erziehen, nicht konterkariert werden. Insofern darf er keinen Religionsunterricht zulassen, der dies nicht gewährleistet. Und umgekehrt darf auch der EU dann nicht "gleichgültig" Religionen und Weltanschauungen darstellen, wenn sie dem friedensgarantierenden Auftrag des Staates oder der Toleranz und dem Respekt gegenüber allen anderen Menschen widersprächen (11).

Der Staat, mithin der Ethik-Unterricht kann nur durch sachliche Information über die verschiedenen Moralbegründungssysteme, Philosophien, Religionen usw., also durch Wissensvermittlung seinem friedenssichernden Erziehungsauftrag nachkommen. Wissen oder, genauer gesagt: ethische Urteils-Bildung hilft jedoch erfahrungsgemäß viel bei der Prüfung der eigenen und anderer Lebensentwürfe, Handlungsbegründungen usw. durch die Schülerinnen und Schüler selbst. Der EU muss dabei weltanschaulich strikt neutral bleiben, er darf also keiner der einzelnen moral communities den Vorzug geben, er darf keine als unmoralisch oder weniger moralisch abwerten.

Sein über diese Wissensvermittlung hinausgehender Erziehungsauftrag richtet sich lediglich auf die Umgehensweise mit fremden Moralen, diese darf eben nicht durch Respektlosigkeit oder gar durch Gewalt die friedliche Koexistenz gefährden. Solange die Religionsgemeinschaft diese Minimalregeln einhält und im Religionsunterricht ernsthaft vermittelt, vermag sie auch im Sinne des friedlichen Zusammenlebens verschiedener moral communities ethische Grundsätze zu vermitteln - vielleicht sogar besser als der Staat, weil die Grundsätze als rückgebunden an gemeinsame Glaubenssätze erklärt und erfahren werden; allerdings kann dies immer nur für gemeinsam Glaubende gelten. Der Ethikunterricht kann Wertvorstellungen hingegen nur erklären.

Missachtet eine der Moralgemeinschaften diese Minimalregel, ruft sie also z. B. zur Gewaltanwendung gegen Andersdenkende auf oder negiert sie die Gleichheit der Rechte aller Menschen (damit übrigens auch von Mann und Frau), so muss der Staat i.S. seines Erziehungsauftrages die Vermittlung der Notwendigkeit der "Minimalregel" und der Unvereinbarkeit einer solchen Haltung mit dem friedlichen Zusammenleben selber übernehmen. Ähnliches gilt, wenn für viele kleine Religionsgemeinschaften keine praktikable Lösung für das Anbieten eines Religionsunterrichts gefunden werden kann. Auch hier darf und muss der demokratische Staat als Minimal-Moral-Erzieher wirken!

Die Frage, inwieweit der Ethikunterricht ethisch denken und handeln lehren darf, findet auf diesem Hintergrund eine zur Vorsicht mahnende Antwort: Der Ethikunterricht soll, darf und kann ethisches Wissen vermitteln, Wissen also über verschiedene Handlungsbegründungssysteme, Wissen über dort vorfindliche Begründungsverfahren wie Evidenzargumente, Glaubensargumente, logische Schlussverfahren usw. Der Ethikunterricht soll die Fähigkeit vermitteln, den eigenen Standpunkt zu verstehen und zu präsentieren, ihn anderen zu erklären und zu begründen. Er soll die Fähigkeit vermitteln, dem anderen zuzuhören, seine Überzeugung zu verstehen, sie für sich zu gewichten und ihr dabei dennoch stets mit Respekt und Achtung zu begegnen. Er hat in diesem Sinne auch ethisches Handeln zu lehren - aber nur in diesem Sinne.

Nicht selten begegnet die Position - nicht zuletzt auch bei Schülerinnen und Schülern, aber auch bei Ethiklehrerinnen und -lehrern, auch bei Freunden aus dem "Fachverband Ethik" -, die Schülerinnen und Schüler hätten den Religionsunterricht verlassen, weil sie sich gegen religiöses Denken entschieden hätten, deshalb sei ihnen ein solches Denken auch nicht mehr vorzulegen. Die Argumentation, aus der oft genug eine Engführung des Unterrichtsgegenstandes auf philosophische Modelle abgeleitet wird, entspricht - dies wurde gezeigt - weder den demographischen Voraussetzungen der "Klientel" des Ethikunterrichts, noch seinem vor dem Ethos des Grundgesetzes vertretbaren Erziehungsauftrag. Der Ethikunterricht muss gerade auch in der Lage sein, nicht philosophische religiöse Systeme im Zusammenhang jedes Handlungsproblems mit Respekt zu präsentieren. Die Ausbildung für den Ethikunterricht muss also, um diesem Auftrag zu genügen, neben philosophischen Inhalten - deren Relevanz betont sei - ein umfangreiches religionskundliches Wissen umfassen; dieses Wissen muss, um wirklich von "Respekt" gegenüber den jeweiligen Religionen zu zeugen, außer den oberflächlichen Theorien z. B. auch die innerreligiösen Auseinandersetzungen, die Alltagsrituale, das Spannungsfeld zwischen Schriften und Traditionen, historische Ausprägungen u.v.m. umfassen. Da schließlich die Relevanz der verschiedenen weltanschaulichen Systeme sich erst in der Tragfähigkeit in bestimmten gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen, rechtlichen usw. Anwendungs-, Handlungsfragen erweist, muss die Ausbildung für den Ethikunterricht neben den Bezugswissenschaften Philosophie und Religionswissenschaften auch die Sozialwissenschaften umfassen (12).

Ein Ethikunterricht, der nur als Philosophieunterricht gestaltet wird, kann der weltanschaulichen Neutralität nicht genügen, die dem Staat und der staatlichen Schule vom Grundgesetz abverlangt wird.

Ein Ethikunterricht, der diesem Anspruch genügen will - und nur dann ist er rechtlich vertretbar -, muss damit auch weitreichenden inhaltlichen Anforderungen genügen. Sie können an dieser Stelle nicht umfassend diskutiert werden. Keineswegs ausreichend - wenngleich notwendige Voraussetzung für einen gelingenden Ethikunterricht - wäre eine nur auf "Lebenshilfe" abgestellte Inhaltlichkeit. Insofern formuliert der "Abschlussbericht zum Modellversuch LER" des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport Brandenburgs vom 1.2.1996 eine Erfahrung, die auch in den alten Bundesländern in der Einführungsphase des Ethikunterrichts vielfach gemacht wurde: "Doch ist grundsätzlich zu akzeptieren, dass eine intensivere Grundlegung und Strukturierung des Fachbereiches bzw. Faches im Hinblick auf Ethik-Philosophie und Religionskunde erforderlich ist. Die Balance zwischen thematischem Bezug und fachlicher Orientierung einerseits und der Situation der Jugendlichen (Lebensnähe) andererseits muss trotz der stärker herauszuarbeitenden fachlichen Bezüge aber auch künftig erhalten bleiben. Dabei wird auch genauer zu klären sein, wie weit die Schule, auch unter Voraussetzung hoher Empathie der Lehrkräfte gegenüber der Situation und den Lebensproblemen der Jugendlichen, in ihren Möglichkeiten der konkreten Lebenshilfe Grenzen erkennen und respektieren muss. Auch die rationale Klärung und distanziert- argumentative Betrachtung eröffnet den Jugendlichen Hilfen zur individuellen Entscheidungsfindung und zur Problembewältigung." (13)

Angesichts einer wesentlich anderen demographischen Ausgangslage als in Brandenburg wird in den westlichen Bundesländern der inhaltlichen Profilierung des Faches schon aus der Konstruktion des Staates als eines neutralen Garanten weltanschaulicher Entfaltung eine nochmals wesentlich größere Bedeutung zukommen. Gerade hierin hat sich der demokratische Staat zu bewähren. Die praktischen Schwierigkeiten einerseits, die je richtige Lösung für die ethische Bildung der jungen Menschen zu organisieren, die konkreten Erfahrungen mit "sparwilligen" Kultuspolitikern andererseits lassen befürchten, dass bei einem Wegfall der Grundrechtsgarantie für den Religionsunterricht der ethische Bildungsauftrag in einem eigenen Fach in der staatlichen Schule generell in Frage gestellt würde. Der für das friedliche Zusammenleben in einem immer schillernder und spannender werdenden Staat so wichtige ethische Bildungsauftrag nähme damit, so ist zu befürchten, auf Dauer großen Schaden - und damit der Staat selber.

In seiner Dankesrede anläßlich der Verleihung des Karl-Jaspers-Preises beschrieb Jürgen Habermas als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft und eines Pluralismus ermöglichenden Staates: "Weltanschaulicher Pluralismus bedeutet, dass die umfassenden Lehren, ob nun weltweit oder innerhalb desselben politischen Gemeinwesens, über die Wahrheit ihrer Erklärungen, die Richtigkeit ihrer Gebote und die Glaubwürdigkeit ihrer Versprechungen streiten, ohne sich auf die Sorte von Gründen beschränken zu können, für die in modernen Gesellschaften allgemeine und öffentliche Anerkennung zu erwarten ist. Aus der Sicht der Weltbilder zwingt diese Reflexion allerdings weder zur Preisgabe essentialistischer Wahrheitsansprüche noch zur Umdeutung von Wahrheitsansprüchen in kontextabhängige Ansprüche auf Wahrhaftigkeit. Sie bringt nur zu Bewusstsein, dass in kontroversen weltanschaulichen, also existentiellen Fragen eine noch so vernünftig geführte diskursive Auseinandersetzung nicht zu Einverständnis führt. Diese Erwartung lässt sich auch auf Versuche der interkulturellen Verständigung beziehen, sofern diese darauf abzielen, über Unterschiede in fundamentalen Wertorientierungen hinweg eine reziproke Wertschätzung ferner Kulturen und Lebensweisen zu fördern. Aber diese Art der Kommunikation kommt gar nicht erst in Gang, wenn nicht zuvor Einverständnis über wichtige Kommunikationsvoraussetzungen besteht. Die Parteien müssen auf die gewaltsame Durchsetzung ihrer Glaubenswahrheiten - auf eine Durchsetzung mit militärischen oder terroristischen Mitteln - verzichten; sie müssen einander ganz unabhängig von der gegenseitigen Wertschätzung ihrer Traditionen und Lebensformen als gleichberechtigte Partner anerkennen; anerkennen müssen sie sich auch als Beteiligte in einem Diskurs, in dem grundsätzlich jede Seite von der anderen lernen kann." (14)

Ethisch denken und handeln lernen heißt im Ethikunterricht: zu lernen, sich gerade in nicht überbrückbaren Gegensätzen mit Respekt zu behandeln (15), mehr nicht!

Aber auch nicht weniger!





(1) So wieder einmal, ohne richtiger geworden zu sein, bei W.O. in "Kuriosum Ethik- Unterricht", Profil 1-2 / 96, S. 16 ff
(2) Angaben nach dem Datenreport 1992 des Statistischen Bundesamtes, Bonn 1992, S. 189 ff.
(3) Angaben nach dem Datenreport 1992 des Statistischen Bundesamtes, Bonn 1994, S. 36, Stand 31.12.1992
(4) A.a.O., S.20, für 1990 siehe Datenhandbuch 1992 (vgl. Anm. 3), S.57. Berlin (West), 1990 noch mit 145 auf dem 11. Rang, findet sich Ende 1992 übrigens nicht mehr unter den ersten 13.
(5) Zur Veranschaulichung die Zusammensetzung meiner Ethikkurse in der Oberstufe eines Beruflichen Gymnasiums in Frankfurt: 29,1% sind evangelisch oder katholisch, viele davon ausländisch, 30,4% Muslime, 14% andere Religionen (orthodox, jüdisch, Zeugen Jehovas, Sikh, buddhistisch u. a.), 26,5% ohne Religion.
(6) Vgl. hierzu auch Johann Baptist Metz in: "Religion und Politik auf dem Boden der Moderne", Frankfurter Rundschau, 10.09.1995, S. ZB 3.
(7) H. Tristram Engelhardt, The Foundations of the Bioethics. New York 1986; vgl. hierzu auch Klaus Steigleder Die Abenteuer der Bioethik, in EU, Streitfall Euthanasie, Sonderheft 1990, S. 170
(8) Der Fortgang der Argumentation wird zeigen, dass die Annahmen zu einer in aller Interesse liegenden Minimalmoral, wie Norbert Hoerster sie aufstellt (etwa in: Jedes Individuum hat ein Interesse an einer Minimalmoral, in: M. Baurmann, J. Kliemt, Glück und Moral, Stuttgart 1987, S. 144ff.), weit über die hier für das Bestehen einer friedlichen Gesellschaft und des Handeln des Staates formulierten Spielregeln hinausgehen.
(9) Ernst- Wolfgang Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1992, S. 359f.
(10) Frankfurter Rundschau, 27.04.1995
(11) Hierin liegt allerdings eine Problematik für die Einführung eines "Islamischen Religionsunterrichtes". Innerhalb des Islam gibt es durchaus religiöse Gruppierungen, die nicht bereit sind, sich diesem Ethos des Grundgesetzes einzufügen. Diesen Gruppen könnte der demokratische Staat kaum das Recht einräumen, einen Religionsunterricht innerhalb der staatlichen Schule abzuhalten. Andererseits bezweifeln die weitaus meisten in Deutschland lebenden Muslime, dass eine derart intolerante "fundamentalistische" Haltung dem Islam, den Fundamenten des Islam in Quran und Hadithen entspricht. Diesen "nichtfundamentalistischen" Gruppen könnte der Staat durchaus den Religionsunterricht nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft zubilligen. Allerdings konnte wegen der dem Islam fehlenden und seinem Denken zuwiderlaufenden "Amtskirche bislang kein überzeugender Vertragspartner gefunden werden. Vgl. zur Einführung in die Problematik z. B. Klaus Gebauer, Islamische Unterweisung in deutschen Klassenzimmern, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens, Neuwied, o.J., S.263ff; Ibrahim Cavdar (VIKZ) Islamischer Religionsunterricht in deutschen Schulen (Cibedo) Frankfurt a. M. 1994 S. 159ff; Bodo Pieroth, Islam in der Schule EU 3/1994, S. 33ff
(12) Insofern kann der Vorschlag des Fachverbands- Kollegen Heinz Albert Veraart für eine universitäre Ausbildung, in: "Ethik - Ein Schul- und Studienfach auf der Suche nach seiner Identität", ZDPE 2/95, keineswegs einem guten, d.h. interdisziplinär orientierten Ethikunterricht entsprechen. Den richtigen weg weisen da eher die interdisziplinären Vorgaben der "Rahmenprüfungsordnung" für Ethik, die 1995 in Hessen erlassen wurden und Grundlage für die nunmehr angebotenen universitären Studiengänge bilden. (13) Abschlussbericht zum Modellversuch "Lebensgestaltung - Ethik - Religion", hg. V. Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Potsdam 1^996, S. 45
(14) Jürgen Habermas, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Dankesrede anlässlich der Verleihung des Karl-Jaspers-Preises, abgedruckt in: "DIE ZEIT", 08.12.1995, S. 60
(15) Ganz in diesem Sinne sieht auch Alfred Treml den "Takt als Metamoral": "Der Ethikunterricht kann Takt vielleicht nicht lehren, aber im Ethikunterricht kann man durchaus Takt lernen." Political Correctness, EU 1/1996, S. 11.

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