SCHULFERNSEHEN HESSEN
Manfred Pöpperl
Ethikunterricht mit dem Schulfernsehen
Die Erfahrungen mit dem Schulfernsehen vor allem im Ethik-Unterricht sollen hier dargestellt und
Schlüsse daraus vorgeschlagen werden. Auf drei Aspekte soll dabei eingegangen
werden:
1. Die Bedeutung des Schulfernsehens für den Unterricht im Fach Ethik
2. Die Erfahrungen mit dem Schulfernsehen in Fort- und Weiterbildung - es kann dies auch
Schulentwicklung genannt werden
3. Die Bedeutung des Schulfernsehens für thematische Innovationen und Aktualität des Unterrichts
1. Zur Unterrichtspraxis
Ethikunterricht in der Teilzeitberufsschule und in den verschiedenen beruflichen Vollzeitschulen
orientiert sich didaktisch an den Vorgaben der Rahmenrichtlinien für die
Sekundarstufe I aus dem Jahre 1982. Das hier vorgesehene didaktische Konzept
hat sich inzwischen auch in vielen anderen Bundesländern durchgesetzt. Dieses
Konzept geht davon aus, daß Ethik-Unterricht weder der Versuch einer
staatlichen Moralerziehung sein darf - er kann dies vermutlich auch gar nicht,
da wäre Schule auch überfordert-, noch eine reine Theorienpaukerei. Was als
Wissen vermittelt werden soll, sind Kenntnisse über Wertvorstellungen und
Handlungsbegründungen, gesellschaftliche Normen, in der Auslegungsvielfalt,
wie sie uns durch die verschiedenen bei uns und in anderen Kulturen wirksamen
Traditionen begegnen - z. B. Christentum, Humanismus, Materialismus,
Utilitarismus, Islam und viele mehr. Ein sinnvoller Ethik-Unterricht entsteht
jedoch erst, wenn gezeigt werden kann, daß diese Traditionen, diese
philosophischen Theorien, gesellschaftlichen Normen unterschiedliche Antworten
darauf sind, wie man im Alltag, in der Lebenswelt, also in der Praxis handeln
sollte.
Im Unterricht selbst soll ein Prozeß der ethischen Urteilsbildung
stattfinden. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich Urteile bilden, sie sollen
aber auch gebildet werden in ihrer Fähigkeiten, solche Urteile zu bilden.
Voraussetzung dafür ist, daß sie sich zunächst ihre eigenen Urteile bilden,
wie man in bestimmten Situationen handeln sollte, bevor sie dann diese Urteile
formulieren, zur Diskussion stellen, sich gegenseitig überprüfen und
überzeugen wollen, um schließlich in diesen Überprüfungsprozeß die Antworten
der verschiedenen Theorien mit einzubeziehen, die Wurzeln ihrer eigenen
Position kennenzulernen und sich so spezifisch ethische Kenntnisse und
Fähigkeiten anzueignen. Nur wenn dieser Bildungsprozeß so gelingt, werden
andere Antworten für die Jugendlichen erkennbar und einschätzbar, und nur
dann, wenn sie diese Antworten und Konzepte kennen, können sie sich auch an
ihnen orientieren.
Damit wird die besondere Funktion deutlich, die in diesem
Prozeß der ethischen Urteilsbildung dem Einstieg, den Situationsvorgaben zukommt.
Sie müssen realistische Handlungssituationen sein oder solche erkennbar
machen, die unterschiedlich begründete Handlungsmöglichkeiten im Umkreis
vielfältiger Bedingungen und Folgen bearbeitbar machen. Diese Handlungssituationen
dürfen nicht zu komplex sein, damit nicht über zu viele Entscheidungskomponenten
zu sprechen ist; und sie dürfen nicht zu einfach oder zu konstruiert sein,
damit der gewünschte und einzuübende Diskurs auch möglich ist.
Das Fernsehen ist in diesem Sinne ein ungemein brauchbares Medium, zumal es den Schülerinnen
und Schülern geläufig ist, sie also nicht erst im Medium liegende Hindernisse
abbauen müssen - das müssen sie an anderen Stellen des Unterrichts zur Genüge.
Bekanntlich ist aus urheberrechtlichen Gründen dieses ungemein brauchbare Medium
kaum zu nutzen - außer den Schulfernsehfilmen und wenigen weiteren Ausnahmen.
Allerdings sind auch einige Bedingungen zu stellen: Nicht jedes
„Fernsehen" ist in diesem Sinne brauchbar! Überspitzt formuliert: Es gibt
außerhalb des Schulfernsehens kaum schulgeeignetes Fernsehen!
An einem Beispiel: Handlungssituationen, wie sie im
Ethik-Unterricht benötigt werden, finden sich sehr brauchbar in
Spielfilmhandlungen; ein eineinhalbstündiger Spielfilm ist jedoch nicht einsetzbar,
dazu ist die Unterrichtszeit - ein, höchstens zwei Unterrichtsstunden in der
Woche - viel zu schade. Er bringt auch gar nichts, weil der Prozeß der
ethischen Urteilsbildung ja durch die Situationsvorgabe nur angestoßen werden
soll - dieser Prozeß muß aber sofort beginnen, er kann nicht auf später
verschoben werden. Die für den Ethik-Unterricht erarbeiteten Schulfernsehfilme
- z.B. die Filme zum „Dekalog" und zur „Bergpredigt" - sind hingegen
sinnvoll einzusetzen:
- Sie sind mit einer Länge von meist 15 bis 20 Minuten an die schulischen Bedingungen (Einzel- oder Doppelstunden)
angepaßt.
- Sie sind auf bestimmte Schülergruppen
sprachlich und filmsprachlich abgestimmt, wozu auch gehört, daß sie technisch
dem gegenwärtigen Fernsehstandard genügen müssen.
- Sie enthalten genau das Maß an Komplexität,
das für den angestrebten ethischen Urteilsbildungsprozeß sinnvoll ist.
- Sie enthalten an
didaktisch sinnvollen Stellen Einschnitte, die zu nutzen sind.
- Und sie sind so konzipiert, daß bestimmte
ethische Fragestellungen im Unterricht von den Schülerinnen und Schülern
kontrovers diskutiert werden, wodurch Lehrer und Lehrerinnen die planbare
Chance haben, die angestrebten Kenntnisse zu vermitteln.
Es gibt kaum andere Medien, die diese Funktion ebenso gut erfüllen können wie das Fernsehen, wenn die Filme auch wirklich im Hinblick auf ihre schulische Bearbeitung konstruiert sind. Natürlich gilt all dies entsprechend auch für
dokumentarisch-informierende Filme wie z.B zum 'Islam', die an anderen Stellen
des ethischen Urteilsbildungsprozesses eingesetzt werden könnte.
Die erste These des Praxisberichts ist: Fernsehen ist ein ausgezeichnetes Medium im
Ethik-Unterricht - dies gilt sicher entsprechend auch für den Einsatz in
anderen Fächern -, aber es muß ein speziell für die Schule erarbeitetes
Fernsehen sein.
Nun ist die Einführung eines völlig neuen Faches kein sehr einfaches Vorhaben.
Beispielsweise gibt es für den Ethik-Unterricht nach nunmehr etwa zwölf Jahren
noch immer keine universitäre Ausbildung. Selbst wenn die Universitäten sofort
mit der Ausbildung beginnen könnten, würden mindestens weitere sieben Jahre
vergehen, bis die ersten ausgebildeten Ethiklehrkräfte an die Schulen kämen.
Die Qualifizierung der Lehrerinnen und Lehrer wurde in den ersten fünf Jahren
der Einführung ausschließlich über Fortbildungsmaßnahmen geleistet. Seit 1988
bietet Hessen -bundesweit vorbildlich - zweieinhalbjährige Weiterbildungskurse
- inzwischen den dritten -in Ethik an. Noch einmal zur Verdeutlichung: Es gab
keine ausgebildeten Lehrkräfte, es gab keine Lehrbücher, es gab nahezu keine
Unterrichtsmaterialien für die Schule, dafür eine große Unsicherheit über das
didaktische Konzept, die Zielsetzung usw. und immense Erwartungen.
2. Erfahrungen mit dem Schulfernsehen in der Fort- und Weiterbildung
Ethik-Unterricht ist ein junges Fach. Es wird in Hessen erst seit 1982 schrittweise eingeführt.
Ethik-Unterricht wird angesichts einer wachsenden Zahl von nichtchristlichen
oder vom Religionsunterricht abgemeldeter Schülerinnen und Schülern in den
nächsten Jahren noch weiter an Bedeutung gewinnen. Hierzu trägt sicher auch die
Orientierungs-Unsicherheit in der modernen, viele Kulturen vereinenden
Industriegesellschaft bei. Damit wird - nicht zuletzt empfinden auch die Eltern
dies als immer stärkeres Bedürfnis - die Vermittlung ethischer Bildungsinhalte
zu einer der zentralen, unabweisbaren Aufgaben des Staates. Die
gesellschaftliche Realität erscheint der heranwachsenden Generation in vielen
Bereichen riskant, undurchschaubar und durch individuelle Handlungen
unbeeinflußbar. Hieraus entsteht (nicht nur) bei den Jugendlichen eine Art
skeptischer Relativismus, der den Anspruch auf ethische Handlungsbegründung,
auf moralische Vertretbarkeit immer mehr aufgibt und damit letztlich die
Mitmenschen und die Erfordernisse eines friedlichen Zusammenlebens in einer Gemeinschaft
aus dem Blick verliert. Gleichzeitig wächst aber bei den Jugendlichen das
Gefühl, daß hier etwas fehlt, das Bestreben nach Orientierung. Im
Ethik-Unterricht können sie in der staatlich verantworteten Schule den Raum und
die Zeit finden, diese sie bedrängenden Fragen gemeinsam und mit Hilfe zu
bearbeiten. Wie wichtig dieses Fach also für die Schule ist, den Schülerinnen
und Schülern ist dies sehr schnell klar. Es wurde aber auch von Eltern, von
verschiedenen Institutionen, nicht zuletzt auch von diesem Hause immer wieder
hervorgehoben. Der Bedarf ist also da und wird gesehen. Die Schulbuchverlage
haben die Finger davon gelassen. Angesichts der sehr verschiedenen Konzeptionen
in den einzelnen Bundesländern - inzwischen gibt es eine erfreuliche
Annäherung auf der Grundlage der Praxiserfahrungen - war es ökonomisch zu
unsicher. Die vier damals vorgelegten Schulbücher waren zum einen für die
Sekundarstufe I - von 7 bis 10, also für 12- und 17-jährige in einem Band - zum
anderen meist schnell an Religionsbüchern orientiert zusammengestellt. Für die
Berufsschule gab es und gibt es immer noch absolut nichts.
In dieser Phase der Einführung des Faches Ethik in Hessen hat das Schulfernsehen im Kontextmodell
erarbeitete Materialien vorgelegt:
- Bereits 1982/83 - also im Jahr der Einführung von Ethik - wurden fünf Sendungen und Begleitmaterialien
unter dem Reihentitel "Modelle ethischer Urteilsbildung" präsentiert.
- Zwischen 1987 und 1990 folgten elf Sendungen, die sich den "Zehn
Geboten" widmeten - eine Produktion, die für den Ethik-Unterricht und den
katholischen und evangelischen Religionsunterricht gleichermaßen geeignete Sendungen
und begleitende Materialien vorlegte. Wichtig z. B., weil bei vielen
Ethiklehrerinnen und Lehrern, aber auch bei den Schülerinnen und Schülern immer
wieder das Mißverständnis auftaucht, Religionsunterricht und Ethikunterricht
wären quasi Konkurrenzunternehmen, und damit, religiöse Moralbegründungen hätten
in Ethik nichts verloren.
- 1991-93 folgte eine vierteilige Sendereihe "Bergpredigt - Berglehre" - nebenbei gesagt
erhielten beide Staffeln auch von den beiden Kirchen ausdrückliches Lob.
- Vor den Weihnachtsferien wurde die Dekalog-Reihe noch einmal wiederholt, jetzt laufen
zwei Sendungen zum "Islam" .
Diese Sendungen haben in der Ausbildung ungemein
geholfen.
Zum einen waren die Filme auf die Altersgruppe und den
Erfahrungsbereich der Berufsschüler abgestimmt - es gab sonst ja nichts.
Zweitens gaben die Begleitmaterialien die Möglichkeit, den Lehrerinnen und
Lehrern, die sich in das 'Abenteuer Ethik' stürzten, ausgearbeitete Vorschläge
für Unterrichtsabläufe in die Hand zu drücken.
Zum Dritten: In der Lehrerfort- und Weiterbildung wurde häufig die Chance genutzt, anhand der Filme die
Arbeitsweise des Ethik-Unterrichts darzustellen - und auch, was man nicht
machen sollte.
Viertens wurden in den Begleitmaterialien vielfältige
theoretische Grundlageninformationen zur Ethik, zum Judentum, zum Christentum,
zur Quellensituation, zur Moralgeschichte, zu philosophischen Einflüssen und
Gegenpositionen usw. für die Lehrerinnen und Lehrer erarbeitet,
Informationen, von denen sie häufig noch nie etwas gehört hatten.
Und schließlich noch etwas ganz Praktisches: Ich habe aus dem Bestand, der für meine Schule von
den Begleitheften zum Dekalog bestellt wurde, inzwischen etwa vier Fünftel
abgegeben: Weitergegeben in kleinen Klassensätzen an Kolleginnen und Kollegen
in Schulen, die mit dem Ethik-Unterricht beginnen wollten und keinerlei
Unterrichtsmaterialien besaßen - gut, daß es jetzt eine Neuauflage gibt.
Um den Gedanken etwas allgemeiner zu fassen: Mit dem Schulfernsehen besitzt das Kultusministerium
ein Mittel, ja sogar eines der wenigen Mittel, Innovationen in die Schule zu
tragen, Schulentwicklung zu betreiben. Verordnungen und Informationsschriften
allein reichen da kaum. Wenn die Lehrerfortbildung nicht anders organisiert
wird, etwa wie in Betrieben, die Beförderungsmöglichkeiten an nachgewiesene
Weiterqualifizierung binden, kann sie dies ebenfalls nicht effektiv genug
leisten. Die kommerziellen Verlage können diese Aufgabe auch nicht erfüllen - diese Art von Innovationen verlaufen in
der Regel zwischen den Bundesländern kontrovers, damit können Verlage nicht
darauf hoffen, daß ihre Produkte in mehreren Ländern zugelassen werden, und
schon wird ein Verlag vorsichtig sein müssen - und wenn ein Produkt in dieser
Situation auf den Markt kommt, bleibt es meist ein fauler Kompromiß zugunsten
der rigidesten Länder.
Die zweite These lautet also: Das Schulfernsehen ist
eines der wenigen Mittel, die das Kultusministerium besitzt, um selber
grundlegende Innovation dieser Art in die Schule zu tragen. Diese Chance
könnte noch viel bewußter genutzt werden.